Weißer Fleck - wer vertritt die Innenstadt?

Gerecht verteilt ist das nicht: In den Ortsräten kämpfen 83 Lokalpolitiker für ihre Dörfer. Die Bewohner der Innenstadt müssen ohne solche Vertreter auskommen. Doch plötzlich versprechen ihnen alle Parteien mehr Einfluss. Der Wahlkampf hat sein erstes großes Thema.

Gerecht verteilt ist das nicht: In den Ortsräten kämpfen 83 Lokalpolitiker für ihre Dörfer. Die Bewohner der Innenstadt müssen ohne solche Vertreter auskommen. Doch plötzlich versprechen ihnen alle Parteien mehr Einfluss. Der Wahlkampf hat sein erstes großes Thema.

(Hildesheimer Allg. Zeitung, 12.03.11) VON HAGEN EICHLER. Gemeckert haben schon viele über die da im Rathaus – Henning Wittneben hat sich zur Wehr gesetzt. Als die Stadtverwaltung plante, die Achtumer Grundschule zu schließen, trommelte der Ortsbürgermeister die Einwohner zusammen, um ihren Kampfgeist zu wecken. Gemeinsam stürmten die Achtumer mit ihren Kindern den Schulausschuss, sie bearbeiteten Ratspolitiker und holten den Oberbürgermeister zu einer Besichtigung. Kurt Machens entschied dann: Die Schule darf vorerst weitermachen. Für diesen Sieg haben sich viele eingesetzt, sagt Wencke Koch, eine der aktivsten Schul-Verteidigerinnen. "Aber ohne den Anschub durch den Ortsrat und den Ortsbürgermeister hätten wir das nie geschafft."

Ein Ortsrat kann etwas bewegen. Auch in Itzum und in Himmelsthür gibt es Beispiele, in Ochtersum und Bavenstedt. Überall in den Außengebieten der Stadt. 38 Prozent der Hildesheimerwohnen in eingemeindeten Dörfern. Im Herbst dürfen sie wieder Ortsräte wählen, die ganz allein für ihre Interessen da sind. Anders sieht es im Stadtgebiet aus. Dort wohnt die große Mehrheit der Hildesheimer, 62 Prozent sind es. Sie haben keinen Ortsrat. Ihnen bleibt nur die Möglichkeit, einMitglied des Stadtrates anzusprechen – und diese Ungleichbehandlung gerät immer mehr in die Kritik. Sechs Monate vor der Kommunalwahl haben die Parteien das Thema für sich entdeckt. In einem sind sie sich einig: Auch die Menschen in der Innenstadt sollen sich künftig besser Gehör verschaffen. Die Frage ist nur, wie?

Mittwochabend, ein Saal mit braunen Fußbodenfliesen, erhellt von Neonlicht. Im Feuerwehrhaus von Neuhof tagt der Ortsrat. Auf der einen Seite des Tisches sitzen vier Sozialdemokraten, etwas versetzt gegenüber vier Christdemokraten, am Kopf des Tisches OrtsbürgermeisterKlaus- GeorgStolzenberg(SPD). Privat duzen sich alle, doch jetzt sind Amtsgeschäfte zu verrichten, es gilt das förmliche Sie. Auch das Volk ist gekommen. Vier Einwohner verlieren sich in dem großen Raum, zwei weitere kommen später. Alle haben Sorgen mitgebracht. "In Marienrode ist der Blick über den Teich zur Kirche fast zugewachsen", klagt Dr. Hans-Ulrich Kaether. "Der Ortsrat sollte sich doch auch um die Schönheit unserer Ortschaft kümmern." Ein anderer Besucher erkundigt sich nach der künftigen Fahrbahnmarkierung für die Robert-Bosch- Straße. Und wann stellt sich eigentlich die neue Leiterin der Grundschule öffentlich vor?

Es sind keine großen Dinge, um die es geht. Auch die Themen, die die Ortsratsmitglieder selbst ansprechen, würden es im Stadtrat nie auf die Tagesordnung schaffen. Erika Giffey von der SPDetwa klagt, dass im Hildesheimer Wald Lastwagen wegen falsch geparkter Autos über den Fußweg fahren. Und doch steckt hinter manchen Beschwerden ein größeres Problem. In Neuhof verging jahrelang kaum eine Sitzung, ohne dass Ortsbürgermeister Stolzenberg über die Grünflächenpflege oder den Winterdienst klagte – je nach Jahreszeit. Als Ursache der Probleme machte er die Privatisierung dieser Dienstleistungen aus. Mittlerweile ist die zurückgedreht. "Wennman bei den Zentralen Werkstätten anruft, bekommt man jetzt prompt einen Termin", berichtet Stolzenberg mit Genugtuung. Wenn ein Innenstädter oder ein Moritzberger, ein Einwohner der Oststadt oder der Marienburger Höhe über wuchernde Büsche oder verdreckte Fußwege klagen will, muss er im Rathaus einen Ansprechpartner suchen, bei der Verwaltung oder im Rat. Doch das ist nicht das Gleiche, sagt der Rentner Karl Klodwig. Er wohnt nahe dem Zingel, darf also keinen Ortsrat wählen. Deren Leistung kann er dennoch bestens beurteilen: Sechs Jahre lang fuhr er als städtischer Angestellter zu jeder Ortsratssitzung, schrieb die Protokolle und leitete die Beschwerden an die Verwaltung weiter. "Ein Ortsrat rauft sich zusammen und tritt gegenüber der Stadt geschlossen auf", sagt der 73-Jährige, "so eine Vertretung haben die Stadtteile nicht." Nur deshalb seien auch viele Probleme in der Stadt so lange verschleppt worden, glaubt er. Die fehlenden Parkplätze etwa. Oder der Durchgangsverkehr in der Schuhstraße und in der Wollenweberstraße. Nicht zuletzt sei es finanziell ein Unterschied, sagt Klodwig. Denn die Ortsräte verteilen auch Geld.

Mal gibt es 300 Euro für die Feuerwehr und den Kolpingverein, mal 200 Euro für Kindergärten und Sportvereine. Für Bavenstedter Kinder war im vergangenen Jahr eine kostenlose Fahrt ins Rasti-Land drin. Einum machte Geld für die Sanierung der Klus-Kapelle locker, in Achtum bekamen die Messdiener 50 Euro. In diesem Jahr geht es weiter, 42000 Euro sind im Ortsratstopf. In Neuhof heben die Lokalpolitiker am Mittwoch die Hand für eine Seniorenfahrt: Maximal 800 Euro schießt der Ortsrat zu, damit zwei Busse die alten Herrschaften zur Hämelschenburg bei Hameln fahren. Für die Einwohner sind das schöne Bonbons. "Die Ortsratsmitglieder können sich dadurch lieb Kind machen", urteilt Klodwig, "für die Stadtteile gibt es das alles nicht."

Diese Schieflage sehen mittlerweile auch viele Kommunalpolitiker. Vor allem die kleinen Parteien wollen sie nicht länger hinnehmen. "Ortsräte für alle", fordert die FDP. "Ortsräte abschaffen, Bürgerforen für alle", kontern die Grünen, und das Bündnis! möchte überall Beiräte wählen lassen (siehe Tabelle unten rechts). Kritik fällt den kleinen Parteien leicht: Sie haben in den Ortsräten ohnehin wenig zu melden. Von 83 Ortsratssitzen haben sie nur fünf erobert.

Doch auch die SPD fordert Änderungen. Sie hat als erstes über die Bürgerbeteiligung öffentlich diskutiert – und sie hat auch die meisten Kurswechsel hingelegt. 2008 sprach sich eine Delegiertenversammlung für die Einrichtung von Stadtbezirksräten nach dem Vorbild von Hannover aus, damit auch die Innenstadtbewohner mitreden können. Vor vier Monaten entschied sich der Stadtverbandsvorstand anders: Die bestehenden Ortsräte sollten bleiben, für die Innenstadt waren Bürgerforen geplant. Als "historisch" bejubelt die SPD diesen Beschluss noch heute auf ihrer Homepage – doch auch das soll nun nicht mehr gelten. Stadtverbandsvorsitzende Jutta Rübke will die Basis auf Ortsräte für die ganze Stadt einschwören. Gestern Abend stand das Thema bei einer Delegiertenversammlung auf der Tagesordnung. Nach Stuttgart 21 und den Gorleben-Protesten hätten viele Politiker gemerkt, dass die Bürger stärker beteiligt werden wollten, sagt Rübke. Sollten die Delegierten die Forderung nach fünf zusätzlichen Ortsräten unterstützen, wäre die CDU die einzige Partei, die noch einen Unterschied macht zwischen Städtern und den Einwohnern der Ortsteile. Das sei auch gerechtfertigt, argumentiert Dr. Ulrich Kumme, Chef der CDU-Ratsfraktion. Denn die Ortsräte seien ein Ergebnis der Eingemeindungen und in vielen Fällen vertraglich festgeschrieben.

Die anderen Parteien setzen auf gleiche Rechte für alle Hildesheimer. Doch ob die darauf gewartet haben? Vom Moritzberg abgesehen, gab es bislang keine wahrnehmbaren Versuche aus den Stadtteilen, sich selbst zu organisieren. Wencke Koch, die Aktivistin für die Achtumer Schule, hat den Unterschied zwischen Stadt und Land bei sich selbst festgestellt. Wenn in ihrem Heimatdorf Achtum eine Bank beschmiert sei oder ein Strauch geschnitten werden müsse, dann melde das jemand dem Ortsrat. Im Stadtfeld, wo Koch seit acht Jahren wohnt, seien die Menschen gleichgültiger. "Mancher ärgert sich vielleicht im Stillen. Aber man nimmt die Dinge eben hin, weil alles so anonym ist."

In Achtum führt ein Aktionskreis den Kampf um die Schule fort. Alle vier Wochen kommen die Schulretter im Bauernhaus von Ortsbürgermeister Wittneben zusammen, die Kneipe hat schon vor langem aufgegeben. Wenn es den Ortsrat mit seinem offiziellen Charakter nicht gegeben hätte, sagt Wittneben, hätte die Kampagne nie den gleichen psychologischen Druck aufbauen können. "Wir sind ein Puffer zwischen der Bevölkerung und der Verwaltung", sagt Wittneben. Ob es diesen Puffer künftig auch anderswo gibt, ob Hildesheim neun oder 14 Ortsräte haben wird, muss der Rat entscheiden. Viel Zeit ist nicht mehr: Am 11. September wird gewählt.

Kategorie

Stadt Hildesheim

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