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Jürgen Trittin kritisiert in Hildesheim die Energiepolitik der Bundesregierung
(Quelle: KEHRWIEDER am Sonntag, 26.09.10 - Von Lothar Veit) Hildesheim. Dienstag, 21. September 2010, 19.28 Uhr. Der Saal über dem Restaurant Nil im Roemer- und Pelizaus-Museum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Jürgen Trittin, Fraktionschef der Grünen im Bundestag, soll über Atompolitik reden. Noch sitzt er an einem Nebentisch, in sein Handydisplay vertieft. Plötzlich ein kurzes Auflachen. Von den Besuchern unbemerkt zeigt er der Hildesheimer Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer die sensationelle Nachricht: Laut der aktuellen Forsa-Umfrage, die der "Stern" jeden Donnerstag veröffentlicht, liegen die Grünen und die SPD gleichauf bei 24 Prozent. Wäre heute Bundestagswahl, hätte Rot-Grün die absolute Mehrheit. Zwar würden für CDU/CSU immer noch 29 Prozent stimmen, aber von der FDP ist derzeit keine Hilfe zu erwarten. Sie kann froh sein, wenn sie nicht an der Fünf-Prozent- Hürde scheitert. Die Linke landet bei zehn Prozent, Rot-Rot-Grün wäre damit nicht nötig. Jetzt nur den Ball flach halten, flüstert Trittin Pothmer zu. SPD-Chef Sigmar Gabriel werde hyperventilieren, wenn er die Zahlen lese. Die Grünen genießen die Prognosen, ganz klar, aber sie wollen jetzt nicht übermütig werden. Trittin wird das historische Umfragehoch in seinem Vortrag nicht erwähnen.
Stattdessen holt er zu einem faktenreichen Ausflug in die Historie der Atompolitik aus. Als Rot-Grün im Jahr 2000 den Atomausstieg auf den Weg brachte, war Trittin Bundesumweltminister. Die Vereinbarung mit den Energiekonzernen sah vor, dass im Jahr 2022 das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht. Damals war es ein Kompromiss, danach etablierte sich der Begriff "Atomkonsens". Doch von Konsens kann angesichts der aktuellen Beschlüsse der schwarzgelben Bundesregierung keine Rede mehr sein. Sie hat mit den vier großen Konzernen Eon, Vattenfall, RWE und EnBW eine so genannte Laufzeitverlängerung der 17 deutschen Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre ausgehandelt. Jürgen Trittin formuliert es anders: "Die Industrie diktiert die Bedingungen." Aus der ursprünglich von Finanzminister Wolfgang Schäuble geforderten Brennelementesteuer sei "eine Art freiwillige Abgabe" geworden, so der Grüne. Er rechnet damit, dass durch die Laufzeitverlängerung rund 100 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen der vier Atomkonzerne gespült werden. Im Gegenzug sollen die Firmen rund 14 Milliarden für die Förderung erneuerbarer Energien an den Staat abgeben. Das sei weniger, als die Branche selbst in einem Jahr investiere, so der Fraktionschef. 2009 seien 17,7 Milliarden Euro in erneuerbare Energien investiert worden. Die Branche boome - und zwar stärker, als selbst die Grünen seinerzeit prognostiziert hatten. Rot-Grün hatte vor zehn Jahren ins Gesetz geschrieben, dass der Anteil der erneuerbaren Energien an der Energieversorgung im Jahr 2010 12,5 Prozent betragen solle. 2009 lag er bereits bei 16,1 Prozent, in diesem Jahr könnte er auf 17 Prozent wachsen. Die Große Koalition wiederum legte fest, dass der Anteil im Jahr 2020 bei 30 Prozent liegen solle. "Das ist mehr, als die Atomkraftwerke je geliefert haben", sagt Trittin, deren Anteil liege nur bei 23 Prozent. Es könne also keine Rede davon sein, dass bei Abschaltung der Atomkraftwerke eine Energielücke entstehe und die Atomenergie als "Brückentechnologie" weiterhin nötig sei. "Im Gegenteil: Im Sinne der Brückentechnologie müsste man die Laufzeiten verkürzen."
Das Argument, Deutschland müsse bei Abschaltung der Meiler Atomstrom aus dem Ausland einkaufen, sei ebenfalls falsch. Bis 2002 sei die Import-Export-Bilanz ausgeglichen gewesen. Mit dem Boom der erneuerbaren Energien sei der Exportanteil rasant gestiegen. Treibende Kraft seien hier unter anderem die Stadtwerke gewesen, die kräftig in Bio- Energie investiert hätten und den "vier Großen" damit auf die Nerven gegangen seien. Er könne daher gut verstehen, wenn Stadtwerke wie in Hildesheim mit der Politik der Bundesregierung nicht einverstanden seien. Durch die Laufzeitverlängerung würden die erneuerbaren Energien "ausgebremst", ist der Ex-Umweltminister überzeugt.
Nach seinem Vortrag ist es an der Zeit für Fragen der rund 130 Besucher - überwiegend Grünen-Anhänger. Einer möchte wissen, wieso die Bundesregierung riskiere, die Laufzeitverlängerung am Bundesrat vorbei entscheiden zu wollen, obwohl doch namhafte Verfassungsrechtler dies nicht für rechtmäßig halten. Seit dem Machtwechsel in Nordrhein- Westfalen haben die unionsgeführten Bundesländer nicht mehr die Mehrheit im Bundesrat. Er könne sich dies nur so erklären, erwidert Trittin, dass die Koalition ein Thema suche, um ihre konservative Klientel zufrieden zu stellen. Dies versuche sie, indem sie den Schulterschluss mit der deutschen Wirtschaft übe. In den Augen der Regierung bestehe diese offenbar aus den "40 Unsympathen", die sich jüngst in einer Anzeigenkampagne für die Laufzeitverlängerung ausgesprochen haben.
Ihm gehe es daher nicht nur um Energiepolitik, sagt Trittin. In der Gesundheitspolitik spiele sich Ähnliches ab. "Das Volk muss verteidigt werden gegen den arroganten, ursupatorischen Machtanspruch der Konzerne und ihrer Lobbygruppen." Gegen die Laufzeitverlängerung werde man mit allen Mitteln vorgehen. "Wenn das schiefgeht, hat die Regierung ein echtes Problem", sagt der Grüne, der seine Partei derzeit als wahre Opposition zur CDU sieht - etwa bei dem umstrittenen Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21". Wenn bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2011 Schwarz-Gelb abgewählt werde, "ist das das Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel".
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