Richter als Retter im Hartz-IV-Dschungel gefragt

Immer mehr Menschen klagen bundesweit gegen Hartz- IV-Bescheide – auch am Hildesheimer Sozialgericht. Rund die Hälfte aller 2010 eingegangenen Verfahren drehte sich um Arbeitslosengeld II.

Während sich im Sozialgericht Hildesheim immer mehr Arbeitslosengeld-II-Klagen türmen, plant das Jobcenter Auswege aus dem Chaos

(Hildesheimer Allg. Zeitung, 24.01.11) Hildesheim. Immer mehr Menschen klagen bundesweit gegen Hartz- IV-Bescheide – auch am Hildesheimer Sozialgericht. Rund die Hälfte aller 2010 eingegangenen Verfahren drehte sich um Arbeitslosengeld II. Während die 13 Richter im Jahr 2009 noch 2355 Hartz-IV-Klagen bewältigen mussten, waren es im Jahr darauf 2526 – das ist ein Anstieg von 7,26 Prozent.

Von einer "Klageflut" könne man im Hildesheimer Jobcenter allerdings nicht sprechen, meint Sonja Kazma, Arbeitsagentur- Sprecherin der Regionaldirektion Niedersachsen-Bremen. Denn im Jobcenter Hildesheim sind 2010 lediglich 912 Klagen erhoben worden – 2009 waren es 1061. Der Grund für die unterschiedlichen Zahlen: Am Hildesheimer Sozialgericht beackern die Mitarbeiter nicht nur Verfahren aus dem Landkreis Hildesheim, sondern auch aus den Landkreisen Göttingen, Holzminden, Northeim und Osterode.

Hildesheimer Anwälte bestätigen, dass seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 zahlreiche Empfänger rechtliche Hilfe suchen. "Rund zweimal wöchentlich berate ich jemanden zum Thema Arbeitslosengeld II", sagt etwa Rechtsanwalt Onno Heyken. "Viele bekommen einen Bescheid vom Jobcenter, den sie nicht verstehen oder nicht nachvollziehen können. Und statt dort nachzufragen, bitten sie einen Anwalt um Hilfe." Oft hätten aber bereits Widersprüche beim Jobcenter Erfolg, und es komme erst gar nicht zur Klage.

Auch Lothar Herzog, Fachanwalt für Sozialrecht, betreut zahlreiche Hildesheimer bei Hartz-IV-Problemen. "2010 ging es bei fast der Hälfte aller neu angenommenen Verfahren um Arbeitslosengeld II", sagt er. "Mehr als zehn Jahre lang war ich der einzige Fachanwalt für Sozialrecht in Hildesheim, aber nun siedeln sich immer mehr Kollegen an. Allein das zeigt den Bedarf." Das deutsche Sozialrecht sei ein regelrechter Dschungel, und darin liege auch der Grund für die zahlreichen Klagen. In den vergangenen sechs Jahren hat es zum Thema Hartz IV etwa 50 Gesetzesänderungen gegeben. "Da müssen die Jobcenter-Mitarbeiter erstmal hinterherkommen", sagt Arbeitsagentur- Sprecherin Kazma. "Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler."

Ob Fehler oder nicht – die Gründe für die Klagen sind vielfältig. Manche Menschen vermuten, das Jobcenter habe ihnen zu viel Hartz IV abgezogen, wenn sie Geld dazuverdient haben, oder die Kosten der Unterkunft falsch berechnet. Oft geht es auch um Neben- und Heizkostennachzahlungen, die nicht erstattet werden. In rund jedem zweitem Fall bekamen Hartz-IV-Bezieher in Hildesheim 2010 zumindest teilweise Recht, weil das Jobcenter fehlerhaft gearbeitet hatte. Damit liegt Hildesheim über dem Durchschnitt – in ganz Niedersachsen sind die Hartz-IV-Klagen laut Bundesagentur für Arbeit nur zu 40 Prozent erfolgreich. Während sich Sprecherin Kazma vor allem mehr Kontinuität in der Gesetzgebung wünscht, um die Situation zu verbessern, sieht Fachanwalt Herzog die Jobcenter in der Pflicht. "Die Hälfte dieser unsäglichen Verfahren wäre vom Tisch, wenn sich die einzelnen Mitarbeiter auf verschiedene Fragen spezialisieren würden", findet er. Ein Sachbearbeiter sei dann beispielsweise Fachmann für Mietfragen, der nächste für Probleme mit dem Einkommen. "Dann müsste nicht jeder jede Kleinigkeit wissen."

Diese Idee weist Sabine Fricke zurück. Die neue Chefin des Hildesheimer Jobcenters will die Zahl der Widersprüche wie berichtet bis Juli halbieren – allerdings auf andere Weise, als Herzog vorschlägt. "Für die Verwaltung wäre eine solche Arbeitsteilung nicht praktikabel", sagt Fricke. "Denn in einer Bedarfsgemeinschaft leben häufig mehrere Personen, die unterschiedliche Probleme mit Hartz IV haben." Ein Vater etwa widerspreche einer Einkommens-Anrechnung, während die Tochter eine zu große Wohnung habe. "So etwas muss auch künftig in einer Mitarbeiter- Hand bleiben." Fricke will stattdessen auf mehr Schulungen setzen, zudem auf verstärkte Aufklärung bei neuen Gesetzen und den persönlichen Kontakt zwischen Sachbearbeitern und Beziehern. In Hildesheim leben 23847 Menschen von Grundsicherung – in 12455 Bedarfsgemeinschaften.

Kategorie

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

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