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(Quelle: Hildesheimer Allg. Zeitung, 23.09.10) Interview: Hagen Eichler
Herr Trittin, die Grünen haben derzeit Umfragewerte wie noch nie, Sie liegen Kopf an Kopf mit der Volkspartei SPD. Wo liegt eigentlich die Grenze für eine grüne Partei?
Jürgen Trittin: Ich habe meine Mitarbeiter gebeten, die Steigerungsraten mal hochzurechnen, damit ich weiß, wann wir die absolute Mehrheit haben. Nein, im Ernst: Wir haben mit 10,6 Prozent bei der Bundestagswahl das beste Wahlergebnis unserer Geschichte erreicht. Wir haben auch die Chance, in bestimmten Regionen die Nase vorn zu haben, etwa in Berlin, wo sich vier Parteien darum streiten, wer die relative Mehrheit hat. Es gibt auf der anderen Seite Regionen, da sind wir noch nicht einmal im Parlament. Das ist der realistische Rahmen, in dem wir uns bewegen. Eine Volkspartei werden wir nicht, weil es in Zukunft gar keine Volksparteien mehr geben wird. Das Modell ist nicht mehr zeitgemäß.
Auch die FDP hat bei der Bundestagswahl ihr bestes Ergebnis eingefahren und ist seither abgestürzt. Kann Ihnen das ähnlich gehen: dass Sie auf einer Erfolgswelle in die Regierung schwimmen, dann aber Ihre Versprechen nicht halten können?
Schauen Sie einmal auf Stuttgart 21: Gegen dieses Projekt stehen die Grünen seit 1995. Unser Argument ist all die Jahre gleich geblieben: Das Geld, das da für vier Minuten Fahrzeitverkürzung für Geschäftsreisende versenkt wird, fehlt für den Güterverkehr und den Regionalverkehr. Diese konsistente Argumentation hat über Jahre immer mehr Zustimmung erzielt. Wir hängen uns da nicht an eine Stimmung, sondern uns fließt Zustimmung zu, weil wir Glaubwürdigkeit haben.
Stuttgart 21 wurde auf demokratischem Weg beschlossen. Können Sie verstehen, dass Befürworter aus der CDU jetzt sagen: Das kann man doch nicht durch Protest auf der Straße wieder kippen?
Die Konservativen haben eines nicht begriffen: Es gibt einen Unterschied zwischen Legalität und Legitimation. Es hat frühzeitig den Versuch gegeben, die Entscheidung des Stuttgarter Rates durch einen Bürgerentscheid zu überprüfen. Das hat man mit windigen Argumenten verhindert. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Wenn es damals zur Volksabstimmung gekommen wäre, wäre der Bahnhof durchgegangen. Jetzt ist das anders, seit der Wirtschaftskrise gibt es eine gesteigerte Sensibilität, was Geldverschwendung angeht, über die übliche schwäbische Mentalität hinaus. Und plötzlich kippt ein Projekt, das man mit sehr fadenscheinigen Tricks über die juristischen Hürden gehoben hat, vollends um.
Aber lässt es sich überhaupt noch stoppen?
Wir haben es nicht mit einem privaten Investor zu tun. Wenn die Deutsche Bahn auf ihrem Rechtsanspruch, zu bauen, nicht beharrt, gibt es Stuttgart 21 nicht. Wir in Niedersachsen müssten das übrigens mitbezahlen. Uns fehlt dann das Geld für den Ausbau der Strecke Hamburg-Hannover, den wir dringend brauchen.
Von Stuttgart in den Landkreis Hildesheim: Was hier viele umtreibt, sind die Megamasten. Wie sehen Sie die Chancen für die Erdverkabelung?
Als Umweltminister habe ich 2005 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sagt: Wenn man Starkstromleitungen baut, kann man sie in geschützten Gebieten und nahe Wohnsiedlungen unterirdisch verlegen, und der Betreiber darf die Mehrkosten umlegen. Diesen Gesetzentwurf hat eine Bundesratsmehrheit unter Führung des damaligen Ministerpräsidenten Wulff verhindert. Jetzt darf nur in Einzelfällen erdverkabelt werden und die CDU beschwert sich, dass es so schwer ist, Stromleitungen zu legen. Mich wundert das nicht. Wir brauchen einen Ausbau der Netze und müssen dann auch die Bedingungen schaffen, dass das in bewohnten Gebieten ohne Belastung der Bevölkerung geht. Übrigens haben damals die gleichen vier Unternehmen gegen die Erdverkabelung Druck gemacht, die jetzt sagen, wegen fehlender Leitungen müsse man die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern. Diese Konzerne sind E.on, EnBW, Vattenfall und RWE.
Dafür, dass die Bundesregierung die Laufzeitverlängerung gewährt hat, müssten Sie mit Blick auf Ihre Umfragewerte der Kanzlerin doch täglich danken.
Nein, überhaupt nicht. Wir haben mit dem Atomausstieg und dem Einstieg in die erneuerbaren Energien eine kleine industrielle Revolution ausgelöst. Die Branche beschäftigt 320 000 Menschen und hat im vergangenen Jahr allein 17,9 Milliarden in Deutschland investiert. Zum Vergleich: Die Bundesregierung schenkt den vier Konzernen 100 Milliarden Extra-Profite und ist ganz stolz darauf, dass davon über 20 Jahre 14 Milliarden in einen Fonds für erneuerbare Energien fließen. Die, die mit abgeschriebenen Altanlagen ihr Geld verdienen, werden massiv gestärkt und diejenigen, die investieren, werden benachteiligt. Wozu führt das? Weniger Wettbewerb führt zu höheren Preisen.
Mancher unserer Leserbriefschreiber fürchtet eher, dass die Preise mit jeder Photovoltaikanlage steigen, die sich ein Nachbar auf das Dach setzt.
Die Mehrkosten durch die Einspeisevergütung macht pro Haushalt etwa 1,50 Euro im Monat aus. Jetzt überlegen Sie mal, wie die Preissteigerungen für Strom in der letzten Zeit tatsächlich gewesen sind. Der Strompreis hat mit den Stromerzeugungspreisen gar nichts mehr zu tun. Die 1,50 Euro sind gut investiert, weil sie uns langfristig von Preissteigerungen abkoppeln.
Rot-grün hat damals den Atomausstieg durchgesetzt. Dachten Sie, das sei nicht wieder rückgängig zu machen?
Ich bin davon ausgegangen, dass wir mit den Konzernen einen Konsens erzielt hatten.
Davon wollen die aber jetzt nichts mehr wissen.
Wir haben die Konzerne nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen, zu unterschreiben. Ich wundere mich umso mehr, als die erneuerbaren Energien noch viel schneller gewachsen sind, als wir es damals erwartet haben. Wenn man am Atomkonsens basteln will, sollte man eher noch schneller aussteigen. Denn wir sind seither von einem Energie-Importeur zu einem Exporteur geworden.
Wenn die Grünen wieder mitregieren sollten: Werden Sie die Verlängerung rückgängig machen?
Es gibt für Profiterwartungen keinen Rechtsschutz. Wer Investitionssicherheit haben möchte, sollte zu dem zurückkehren, was wir vereinbart haben.
Unser Leser Tilo Diepholz fragt Sie: Werden nicht in den Nachbarländern mehr Atomkraftwerke entstehen, wenn wir unsere abschalten?
Erstens: Wir exportieren mehr Strom, als wir importieren. Im Sommer liefern wir zum Beispiel viel nach Frankreich, das die meisten Atomkraftwerke in Europa hat. Leider müssen die im Sommer heruntergefahren werden, weil die sich dann nicht mehr kühlen lassen. Der Franzose hat es aber gern kühl in seiner Wohnung, also dreht er die Klimaanlage auf, und wir liefern den Strom dafür. Zweitens: In Europa sind derzeit gerade mal zwei Atomkraftwerke im Bau. Die Zahl der Atomkraftwerke in Europa sinkt, weil mehr alte vom Netz gehen als neue gebaut werden.
Die Stadtwerke Hildesheim bauen ein Holzkraftwerk, ein Wasserkraftwerk haben sie schon. Der Geschäftsführer sagt, durch die Laufzeitverlängerung könne er in so etwas weniger investieren. Teilen Sie diese Auffassung?
Der Geschäftsführer ist sicherlich kein Grüner ...
Nein, der ist in der CDU.
Und er hat recht: Die Stadtwerke haben im Vertrauen darauf investiert, dass Altanlagen schrittweise vom Netz gehen. In ihren Investitionserwartungen sehen sich die Stadtwerke völlig getäuscht, sie werden ihren Strom nun nicht so verkaufen können wie geplant.
Unser Leser Thilo Diepholz möchte gern wissen, warum Sie sich als Umweltminister nicht um die Asse gekümmert haben.
Ich habe mich ausdrücklich darum gekümmert, das kann man in den Akten des Untersuchungsausschusses nachlesen. Aber der Betreiber der Asse hat die Landes- und die Bundesaufsicht schlicht angelogen und unterschlagen, dass dort radioaktiv verseuchte Lauge austrat.
Anfang Oktober geht in Gorleben die Erkundung für ein Endlager weiter. Weil der Müll ja da ist, braucht man die Erkundung auch, oder?
In Gorleben ist längst alles erkundet, dort wird ohne Genehmigung ein Endlager gebaut. Dort wird aber nie etwas eingelagert, weil 2014/15 die Salzrechte auslaufen. Man hat sich 30 Jahre auf nur einen Standort kapriziert, und je früher man sich davon trennt, desto eher findet man eine Lösung für den Atommüll. Wir brauchen eine vergleichende Standortsuche.
Die Grünen haben gerade die Mitgliederzahl von 50 000 überschritten, Sie ziehen auch Leute an, die früher die CDU gewählt haben. Haben Sie Angst, dass sich Ihr Profil dadurch verwässert?
Die, die den Weg in die Partei finden, schärfen unser Profil eher. Vor allem die Jungen legen großen Wert auf Glaubwürdigkeit, Profil und konsistentes Verhalten. Die verlangen von uns eher, radikaler zu sein als angepasster. Bei den Treffen der Grünen Jugend etwa gibt es kein Stück Fleisch mehr. Da gilt: Fleisch ist Mord, Käse ist Folter.
Herr Trittin, Sie haben in einer kommunistischen Splittergruppe angefangen. An welchem Tag haben Sie gemerkt, dass Sie in der Mitte der Gesellschaft ankommen?
Als ich vor 30 Jahren zu den Grünen kam, war Schluss mit der Splittergruppe. Was die Grünen durchgesetzt haben, hat die große Mehrheit der Bevölkerung getragen. Das war so bei der Homo-Ehe und auch beim Umsteuern in der Energiepolitik. Das ist heute die Mitte der Gesellschaft.
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