Forsa-Umfrage gibt den Bürgern eine Stimme

Lässt die Anti-Atomwelle die Grünen wachsen? Jagen CDU und SPD am 11. September dem Bündnis! Sitze ab?  So unklar wie diesmal war die Lage vor einer Wahl selten. Anlass für die HAZ zu einem einmaligen Schritt: Wir haben vom Meinungsforschungs-Institut forsa die Bürger befragen lassen, ab morgen sind die Ergebnisse zu lesen. Die Politik sollte sie ernst nehmen, rät forsa-Chef Manfred Güllner.

(Hildesheimer Allg. Zeitung, 13.05.11)

HAZ (Interview: Rainer Breda): Wie aussagekräftig ist eine Umfrage vier Monate vor der Wahl?

Manfred Güllner:
Sehr aussagekräftig, was die Einschätzung, die Bewertung und die Meinung der Bürger anbelangt. Das Ergebnis muss nicht identisch mit den Stimmen sein, die später auf die Parteien entfallen. Aber die Umfrage sagt viel darüber aus, wie die Kommunalpolitik wahrgenommen wird. Man erfährt, wie die Menschen Probleme in der Stadt sehen, die von der Politik entweder überoder unterschätzt werden. Die Bürger haben sehr klare Vorstellungen. Sie sind keineswegs desinteressiert an Politik, wie es immer heißt. Unsere Umfrage gibt den Menschen in Hildesheim eine Stimme und hält den Politikern ein Spiegelbild vor: Sie können nicht einfach aufgrund von Dogmen oder ideologischen Normen irgendwelche Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg treffen.

Beeinflussen Umfragen die Bürger in ihrer Wahlentscheidung?


Die Bürger gehen sehr souverän mit dem Stimmzettel um. Sie lassen sich von Umfragen nicht beeinflussen, Untersuchungen im Umfeld der vergangenen Bundestagswahl haben das erneut bestätigt. Wir sehen das auch immer wieder in den USA: Wenn in Kalifornien noch gewählt wird und in Florida bereits die ersten Hochrechnungen bekannt sind, hat das die Kalifornier noch nie in irgendeiner Weise in ihrem Wahlverhalten gelenkt. Und auch in Deutschland war 1990 schon lange vor dem Wahltermin bekannt, dass die CDU gewinnen würde. Damals haben wir von forsa die Leute gefragt: Ihr müsstet doch eigenlich gar nicht mehr wählen, das Ergebnis steht doch fest. Nein, nein, haben die gesagt, wir sind der Souverän, wir müssen ja erst mit dem Stimmzettel exekutieren, was ihr vorher ermittelt habt. Es kam dann so, wie wir es vorausgesehen hatten.

Es gab aber auch Wahlen, wo das nicht der Fall war.


Ja, zum Beispiel die Bundestagswahl 2005. Damals hatten wir die CDU überschätzt. So etwas passiert aber immer wieder: 1965 hatten die Umfrage-Institute – damals gab es forsa noch nicht – ein Kopf-an- Kopf-Rennen zwischen Ludwig Erhard und Willy Brandt vorausgesagt. Und dann hat Erhard einen klaren Sieg errungen.

Sind Vorhersagen auch schwer, weil sich Wähler spät entscheiden?


Es ist nicht so, dass sich alle erst in der Wahlkabine entscheiden. Das sind Märchen, die immer wieder von der ARD verbreitet werden. Zum Beispiel bei der Europawahl, wo es hieß, 40 Prozent hätten erst in der Kabine beschlossen, wen sie wählen. Das ist Quatsch: Gerade bei der Europawahl gehen die Treuesten der Treuen hin, die haben zeitlebens immer dieselbe Partei gewählt. Es gibt eben Konstellationen wie 2005, wo die Parteipräferenz und die Kanzler-Präferenz auseinanderklafften. Die Vorbehalte, die damals gegen die Kandidatin Merkel bestanden, haben dazu geführt, dass Leute, die eigentlich CDU wählen wollten, weil sie Rot-Grün weghaben wollten, sich in der letzten Phase des Wahlkampfes entschieden haben, nicht zur Wahl zu gehen oder FDP zu wählen.

Was ist denn der Unterschied zwischen Umfrage und Prognose?


Wir können bei Umfragen nur nach Verhaltens- Absichten fragen, das ist noch nicht das Verhalten am Wahltag. Wenn der noch dazu in relativ weiter Ferne liegt, kann sich noch sehr viel ändern an den Einstellungen der Menschen. Es können Maßnahmen diskutiert werden, die diese Einstellungen verändern. Vier Monate sind ein langer Zeitraum, und wir können unterstellen, dass viele in Hildesheim noch gar nicht wissen, dass im Herbst Kommunalwahlen stattfinden, weil die normalen Bürger sich ja nicht 24 Stunden am Tag mit Politik beschäftigten. Die nehmen erst richtig wahr, dass sie aufgefordert sind, zur Wahl zu gehen, wenn sie die Wahlbenachrichtigung bekommen und die Plakate hängen. Dann sperren sie die Augen und die Ohren auf, um sich zu entscheiden. Auch, ob sie überhaupt wählen oder nicht. Insofern können wir lange vor einer Wahl nur die aktuelle Stimmung einfangen, die mit den Stimmen am Wahltag nicht übereinstimmen muss.

Und was ist eine Prognose?


Das ist das, was Sie um 18 Uhr auf den Fernsehschirmen sehen, wenn die Institute am Wahltag selbst zwischen 8 und 18 Uhr auf einer breiten Basis Wähler zu deren Entscheidung befragen. Der große Unterschied zur Umfrage ist, dass wir dann ausschließlich Wähler befragen und keine Unsicherheit durch potentielle Nichtwähler haben. Das ist das Problem bei Umfragen vor Wahlen: Diejenigen, die nicht zur Wahl gehen, geben das nicht gern zu.

Sind das denn so viele?


Wir haben Anfang der 70er-Jahre in Nordrhein-Westfalen bei infas nachweisliche Nicht-Wähler aus dem Wähler-Verzeichnis herausgeschrieben. Von denen hat die Hälfte hinterher behauptet, sie hätte gewählt. Vor der Wahl sagen Leute immer, sie gingen zur Wahl, weil sie das für notwendig und richtig halten – und dann gehen sie nicht hin. Das führt zu Unsicherheiten: Je höher die Wahlenthaltung ist – und die ist bei Kommunalwahlen stets sehr hoch – desto schwieriger ist es, das Ergebnis vorherzusagen. Wir können also nicht von einer Prognose sprechen, sondern immer nur die aktuelle politische Stimmung zu dem Zeitpunkt einfangen, an dem wir befragen.

Welchen Einfluss haben die Ergebnisse von Umfragen auf die Politiker?


Politiker in Deutschland schauen immer zuerst auf die Partei-Zahlen. Doch das sind Stimmungsdaten, die pendeln – mal nach oben, mal nach unten. Viel wichtiger ist aber: Was empfinden Menschen als Problem? Wo sehen sie Defizite? Womit sind sie unzufrieden? Da müssten Politiker gucken: Kann ich Schlussfolgerungen ziehen für Entscheidungen? Gibt die Umfrage mir Hinweise, wo ich eigentlich tätig werden müsste? Das heißt nicht etwa, dass Umfragen Politik ersetzen sollen. Politiker dürfen auch nicht auf Mehrheitsmeinungen schielen. Aber wenn sie sehen, dass es Unzufriedenheiten und Erwartungen gibt, dann müssen Politiker darüber nachdenken. Sie müssen sich nicht nach der Meinung der Mehrheit richten. Aber sie müssen wissen, dass Widerstände existieren oder eine hohe Akzeptanz besteht. Wenn gute Gründe vorliegen, an einer Entscheidung festzuhalten, auch wenn die Mehrheit das anders sieht, muss die Politik das vertreten. Die Menschen erwarten, dass man führungsstark ist und Meinungen prägt. Und wenn die Politik aus gut erwogenen Gründen der Meinung ist, dieses oder jenes muss gemacht werden, dann akzeptieren Menschen das auch. Auch wenn sie nicht unbedingt damit übereinstimmen. Gefährlich ist es für Politiker, wenn sie glauben, es gäbe eine Mehrheitsmeinung, und der müssten sie hinterherlaufen, es aber in Wirklichkeit nur eine Minderheitsmeinung ist. Wir sehen das gerade in der Energiefrage, wo die ganze Politik hysterisch reagiert und meint, das Volk hätte nichts Dringlicheres, als aus der Atomenergie aussteigen zu wollen. Das ist eine völlig falsche Einschätzung!

Glauben Sie wirklich?


Das können wir belegen. Die Frage des Ausstiegs aus der Kernenergie ist für die Menschen überhaupt kein wichtiges Problem. Das ist für eine Minderheit, nämlich die Anhänger der Grünen, ein großes Problem. Aber für die anderen Menschen ist die Frage der sicheren Energieversorgung sehr viel wichtiger. Wir erleben hier eine völlig hysterische Reaktion der Politiker. Wir könnten sie vor diesen falschen Annahmen warnen, wenn sie auf uns hören würden. Aber das tun Politiker leider nicht, wie sich gerade wieder am Beispiel Kernenergie zeigt.

Haben Sie noch andere Beispiele?


Ja, Stuttgart 21. Es ist ja nicht so, dass die ganze Stadt auf den Beinen gewesen wären, um gegen den Umbau des Bahnhofs zu protestieren. Es gab nur keine Umfragen. Als wir dann die erste Umfrage gemacht haben, waren wir erstaunt, dass die Hälfte der Menschen in Stuttgart für den Umbau ist. Und nur die Hälfte Bedenken hat. In den Medien aber konnte man es so lesen, als ob das ganze Volk in Stuttgart, ja in ganz Baden-Württemberg, gegen den Umbau ist. Dabei sind viele Stuttgarter froh, dass das scheußliche Ding endlich wegkommt. Aber nur jene, die am Hang wohnen, protestieren. Weil sie zehn Jahre auf eine Baustelle gucken. Verständlich – aber es sind Partikularinteressen, die da artikuliert werden.

Also hören Politiker oft auf die, die am lautesten schreien?


Zu Anhörungen bei Bebauungsplanverfahren oder Entwicklungsmaßnahmen kommen von 10000 Betroffenen vielleicht 300 Leute. Dann denken die Planer und Entwickler: Oh, das ist ja die Mehrheit, danach müssen wir uns richten. Aber die 9700, die nicht kommen, haben möglicherweise ganz andere Vorstellungen. Deswegen ist es wichtig, sie zu befragen. Und den Planern zu sagen: Die haben ganz andere Interessen als die 300, die da laut schreiend aufgetreten sind.

Demnach haben Umfragen Einfluss auf das Verhalten von Politikern?


Die Frage ist, ob sie richtig reagieren. Ob sie einerseits zu panisch sind oder andererseits Umfragen nicht ernst genug nehmen. Beides wäre schlecht. Denn Stimmungen können sich ändern. Und wenn Politiker nicht ernst nehmen, was wir ermittelt haben, nehmen sie die Menschen nicht ernst. Die nehmen ihnen das übel. Und gehen dann nicht wählen.

Wo liegt für forsa der spezielle Reiz einer lokalen Befragung?


Die lokale Politikebene wird von den Bürgern als eigenständig wahrgenommen. Es ist nicht so, dass die Kommunalwahl ein Reflex der Großwetterlage wäre, was manche behaupten. Wir sehen, dass die Menschen sehr genau unterscheiden können, ob es um die Mehrheit im Rathaus geht oder im Landtag oder Bundestag. Sie erwarten auf kommunaler Ebene sehr viel weniger ideologische Komponenten, Debatten und Konflikte, sondern sachorientierte Politik. Das lassen aber Kommunalpolitiker der meisten Parteien außer acht. Sie spielen große Politik im Rathaus, führen Koalitionsverhandlungen und ideologische Debatten. Aber sie reden nicht darüber, was der Stadt am besten tut. Bauen wir dort eine Straße oder nicht? Muss das Schwimmbad geschlossen werden? Müsste man die Steuern erhöhen? Wird die Schule angestrichen? Welche Leistungen können wir erbringen? Welche Bevölkerungsgruppen bekommen etwas? Welche nicht? Das sind handfeste Entscheidungen, die die Menschen unmittelbar zu spüren bekommen, während das, was in Berlin beschlossen wird, meist abstrakte Regelungsmechanismen sind, die nicht unbedingt sofort spürbar werden. Kommunalpolitik dagegen wird sofort umgesetzt, sie ist für die Menschen erfahrbar. Deswegen ist sie auch für uns bei forsa sehr wichtig.

Unterm Strich heißt das: Die Parteien haben noch Zeit, um auf das, was sie durch forsa und die HAZ erfahren haben, reagieren zu können?


Man kann vier Monate vor einer Wahl nicht das Ergebnis vorhersagen. Wenn sich allerdings an der Bewertung der Menschen bis zum Wahltag nichts ändert, dann kann es sein, dass es so ähnlich kommt. Wir haben bei der Kommunalwahl in Bayern in Ingolstadt gesehen, dass sich in den letzten Wochen vor der Wahl noch viel verschoben hat, und zwar von der CSU in Richtung Freie Wähler. Das hatten wir vier Monate vor der Wahl noch nicht so erwartet, weil die Freien Wähler da noch nicht so sichtbar waren. Auch in Hildesheim muss man abwarten: Was ist mit den freien Gruppen wie Bündnis! und Die Unabhängigen/BAH? Die sind heute im Bewusstsein der Menschen noch nicht so verankert. Hier wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit Verschiebungen geben zwischen der Stimmung, die wir ermittelt haben, und dem Ergebnis im Herbst.

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