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Der Fall der Familie Siala zeigt die rigide Härte der deutschen Flüchtlingspolitik
(Hildesheimer Allg. Zeitung, 02.09.11) Kreis Hildesheim. Nein, keine mündliche Auskunft. "Bitte mailen Sie uns Ihre Fragen zu." Man beantworte alle Fragen zu der "Sache Siala" nur schriftlich, erklärt der Pressesprecher des Landkreises Hildesheim, Hans-Albert Loenneker, noch gestern Mittag. Am Nachmittag heißt es dann: Nein, keine Antwort. Man könne erst antworten, wenn Landrat Reiner Wegner im Hause sei und eine Abstimmung mit dem Innenministerium stattgefunden habe. Dabei dürfte die "Sache Siala" auch im Landratsamt seit sechseinhalb Jahren bekannt sein: Sie zeigt die kalte, herzlose Seite deutscher Flüchtlingspolitik.
Vor sechseinhalb Jahren begann jenes Drama, das sich heute zwischen einem Elendsviertel am Rande der türkischen Stadt Izmir und dem Dorf Dinklar abspielt. In Dinklar wohnt der Schlachter Ahmet Siala mit seinen beiden Töchtern Nora (12) und Amina (13), in Izmir seine Frau Gazale Salame mit der Tochter Schams (7) und dem Sohn Ghazi (6).
"Leben ist ein zu feiner Ausdruck, Gazale Salame vegetiert in einem für sie nach wie vor fremden Land als alleinerziehende Mutter. Sie wird von den Türken kritisch betrachtet und steht stets am Rande der Depression und der Verzweiflung", sagt die 77-jährige frühere Bürgermeisterin Lore Auerbach. Die Hildesheimer Ehrenbürgerin zählt wie die SPD-Landtagsabgeordnete Jutta Rübke und viele andere zu den Unterstützern Gazale Salames, die im Morgengrauen am 10. Februar 2005 mit ihrer damals zweijährigen Tochter Schams in die Türkei abgeschoben worden ist. Mit ihrem Sohn Ghazi war sie damals im dritten Monat schwanger. Vater Ahmed Siala hatte "Glück" im Unglück: Er brachte die anderen beiden Kinder gerade zur Schule, als die Polizei anrückte.
Seitdem hat die "Sache Siala", zu der der Landkreis Hildesheim nur noch schriftlich Auskunft geben mag, das Innenministerium, katholische und evangelische Kirche, diverse Gerichte und zuletzt die Härtefallkommission des Innenministeriums beschäftigt. Ohne dass aber ein Strich unter die humanitäre Tragödie gesetzt werden konnte. Denn Ahmed Siala folgte nicht dem Kalkül des Landkreises und seiner Frau in die Türkei, sondern blieb mit den anderen beiden Kindern hier und kämpfte um ein Aufenthaltsrecht.
Große Hoffnungen waren Anfang dieses Jahres auf die Härtefallkommission gesetzt worden. Die betrachtete aber Siala trotz aller Härten nicht als Ausnahmefall nach dem Gesetz, sondern lehnte seine Anerkennung ab. "Die Kommission hat den Fall ganz knapp abschlägig beschieden", berichtet Lore Auerbach, "obwohl der jetzt 31-jährige Siala seit 26 Jahren in Deutschland lebt". Vier Mitglieder der Kommission seien für die Annahme des Falles gewesen, zwei dagegen, eins habe sich enthalten. Man brauche aber eine Zweidrittelmehrheit. Was Auerbach nicht berichtet: Die Kommission wäre an diesem Fall fast zerbrochen, es gab ungemein harte Auseinandersetzungen unter den ehrenamtlichen Mitgliedern, von denendie meisten gerne einen Schlussstrich unter die "Sache Siala" gesetzt hätten.
Sein Unglück besteht darin, dass der Landkreis Hildesheim den in Deutschland aufgewachsenen Libanesen nach wie vor als Türken betrachtet und ihn damit in Sippenhaft nimmt. So hätten Sialas Eltern bei ihrer Einreise in Deutschland – sie kamen aus dem Libanon – falsche Angaben gemacht. Deshalb auch wurde Siala 2001 (da lebte er bereits fünf Jahre in Deutschland) die Aufenthaltserlaubnis entzogen. Andere Dokumente, die die Familie vorlegte und die eine libanesische Herkunft bezeugen, überzeugten deutsche Behörden jedoch nicht, obwohl sogar das Bundesverwaltungsgericht vor zwei Jahren meinte, der Grenzfall Siala/Salame müsse "politisch" gelöst werden.
Anfang dieses Jahres sah es fast auch so aus, als könne hinter den Kulissen eine Lösung gefunden werden. Selbst das Innenministerium, sonst im Ruf, die Gesetze besonders rigide auszulegen, habe fieberhaft nach einer Lösung gesucht, heißt es. Allerdings geschah ein Vorfall, den Unterstützer als "tragisch" bezeichnen. Ahmed Siala, belastet durch kranke Eltern, die Gründung seines Betriebes und die Erziehung seiner Kinder, soll gegenüber einer Lehrerin ausfällig geworden sein. Diese habe den Schlachter wegen Nötigung angezeigt, heißt es. Die Strafe folgte auf dem Fuße – 20 Tagessätze und ein weiterhin ungewisses Schicksal.
Nun nehmen die Unterstützer einen weiteren Anlauf und sprechen von einer "Wende". Sie haben ein Dokument aufgetan, das Ahmed Sialas Vater Ghazi 1962 als libanesischen Gemüsehändler in Beirut ausweist. "Er ist verheiratet und hat mehrere Kinder ... Er hat einen guten Ruf und sich stets ordentlich benommen", steht auf dem arabischen Dokument. Ferner habe die DNA-Analyse eines angeblich türkischen Onkels gezeigt, dass dieser nicht mit der Familie verwandt sei. "Da müsste doch der Landkreis sehen, dass er von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist", sagt Rechtsanwältin Silke Schäfer. Und Hildesheims Superintendent Helmut Aßmann meint wie sein katholischer Kollege Wolfgang Voges, dass die Sache "grotesk" und "von Anfang an falsch aufgewickelt" worden sei.
Die "Sache", zu der sich der Landkreis nur schriftlich äußern will.
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