Der ewige Streit um das Wörtchen "angemessen"

2.526 Hartz-IV-Verfahren beschäftigten 2010 das Hildesheimer Sozialgericht Die junge Frau wollte es kaum glauben: Als sie beim Jobcenter Hartz-IV-Leistungen beantragte, genehmigte man ihr zwar den Regelsatz, aber keine Unterkunftskosten. Begründung: Sie lebe in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft mit einer erwerbstätigen Person – und die könne für die Miete aufkommen. Damit stand die junge Frau vor einem Problem: Wie beweist man etwas, das es nicht gibt?

2.526 Hartz-IV-Verfahren beschäftigten 2010 das Hildesheimer Sozialgericht

(Quelle: KEHRWIEDER am Sonntag, 23.01.11 - Sara Reinke) Hildesheim. Die junge Frau wollte es kaum glauben: Als sie beim Jobcenter Hartz-IV-Leistungen beantragte, genehmigte man ihr zwar den Regelsatz, aber keine Unterkunftskosten. Begründung: Sie lebe in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft mit einer erwerbstätigen Person – und die könne für die Miete aufkommen. Damit stand die junge Frau vor einem Problem: Wie beweist man etwas, das es nicht gibt? In diesem Fall eine Lebensgemeinschaft – die doch in Wirklichkeit nur eine Wohngemeinschaft war. Dass die "erwerbstätige Person" ebenfalls eine Frau war, beeindruckte das Jobcenter jedenfalls nicht. Soll bloß keiner denken, in der Behörde habe man noch nie von gleichgeschlechtlichen Beziehungen gehört.

Der Fall ging schließlich vor Gericht, die junge Frau bekam Recht. Sie war eine von insgesamt 2.526 Hartz- IV-Empfängern, die im vergangenen Jahr am Hildesheimer Sozialgericht ein Verfahren gegen die Berechnung ihrer Leistungen angestrengt haben.

Diese Zahl sei in der sechsjährigen Geschichte der Hartz-Konzepte bisher unübertroffen, sagt Annette Zurbrüggen, Pressesprecherin des Landessozialgerichtes Niedersachsen- Bremen, doch sie stehe für einen Trend. "Klagen und Rechtsschutzverfahren gegen das Arbeitslosengeld II machen inzwischen einen großen Teil der Arbeit der Sozialgerichte aus." Am Sozialgericht Hildesheim waren 2010 mehr als die Hälfte der verhandelten Verfahren diesem Bereich zuzurechnen. Und es werden immer mehr. Die Kläger stammen aus dem gesamten Gerichtsbezirk, zu dem neben Hildesheim auch die Landkreise Göttingen, Holzminden, Northeim und Osterode zählen.

Sie beanstandeten unter anderem falsch ausgestellte Bescheide, eine fehlerhafte Berechnung der Regelsätze oder zu geringe Sonderleistungen zum Beispiel für einen Umzug. Auch gegen vom Jobcenter verhängte Sanktionen setzen sich dessen "Kunden" immer häufiger mit anwaltlicher Unterstützung zur Wehr. Besonders oft sind die Kosten für Unterkunft und Heizung Anlass für Rechtsstreitigkeiten. Diese Kosten übernimmt der Staat laut Gesetz in "angemessenem Umfang" - ein dehnbarer Begriff.

"Dass es da einen gewissen Spielraum gibt, ist beabsichtigt, schließlich sollen die Mitarbeiter der Jobcenter die Möglichkeit haben, auf die individuelle Situation des Leistungsempfängers zu reagieren", betont Zurbrüggen. Doch wer Hartz-IV-Leistungen bezieht, für den kann jeder Euro, den er nicht hat, eine kleine Katastrophe bedeuten.

Das Risiko, in einem solchen Fall ein Gericht entscheiden zu lassen, ob die gefühlte Ungerechtigkeit auch eine tatsächliche ist, ist gering: Die Verfahrenskosten trägt der Staat. Bundesweit wird etwa der Hälfte der Hartz- IV-Klagen stattgegeben – auch in Hildesheim geht man davon aus, dass bis zu 50 Prozent der beanstandeten Bescheide unrechtmäßig sind.

Allerdings sei die Zahl der Bescheide, gegen die Widerspruch eingelegt wird, sehr gering, sagt Sabine Fricke, neue Geschäftsführerin des Jobcenters Hildesheim. "Im Bereich Hildesheim, Alfeld, Gronau und Bad Salzdetfurth verschicken wir jährlich 250.000 Bescheide. Davon wurde im vergangenen Jahr nur 4.130 Bescheiden widersprochen, gegen 914 zogen die Empfänger vor Gericht." Fricke spricht davon, dass bezogen auf die Gesamtzahl der Mitteilungen mehr als 98 Prozent der Entscheidungen korrekt gewesen seien. Zumindest riefen sie keinen amtlich dokumentierten Protest hervor.

Wenn aber, wie auch Fricke einräumt, von 4.130 Widersprüchen rund der Hälfte stattgegeben wurde, haben die Mitarbeiter des Jobcenters in etwa 2.000 Fällen offenkundig Fehler gemacht. Fricke führt das unter anderem darauf zurück, dass sich die rechtlichen Grundlagen zur Leistungsberechnung ständig ändern. Seit im Jahr 2005 Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Rahmen der Hartz-IVKonzepte zum Arbeitslosengeld II zusammengeführt wurden, seien die gesetzlichen Regelungen mehr als 50 Mal überarbeitet worden.

Dazu kam, dass die Zukunft der Jobcenter lange Zeit ungeklärt war und Personal deshalb nur befristet eingestellt werden konnte. Kaum hatte sich ein Mitarbeiter in das hochkomplexe Thema eingearbeitet, endete auch schon sein Vertrag. Bearbeitungsfristen konnten nicht eingehalten werden, etliche Akten blieben liegen. Zurzeit belaufen sich die Rückstände auf 1.800 Fälle – eine Zahl, die Fricke bis zum Sommer um die Hälfte reduzieren möchte. Sie sieht gute Chancen, danach eine zügige Bearbeitung der Widersprüche gewährleisten zu können (siehe auch Seite 9).

Zwar wird das staatliche Unterstützungspaket auch weiterhin ständig auf- und wieder neu zugeschnürt: Die eigentlich schon für diesen Monat geplante Erhöhung des Regelssatzes steht noch aus, die von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen ausgeklügelten Bildungsgutscheine für Kinder sind noch in der Schwebe, um nur zwei Beispiele zu nennen. Doch immerhin ist hinter den Kulissen des Jobcenters jetzt soviel Ruhe eingekehrt, dass die Mitarbeiter sich diesen neuen Herausforderungen besser stellen können als noch im vergangenen Jahr, glaubt Fricke. Die insgesamt 255 Stellen seien gesichert, die Aufgaben innerhalb des Jobcenters neu gegliedert. "Ich habe für jeden Menschen Verständnis, der im Widerspruchsund Klageverfahren eine Entscheidung anzweifelt", sagt die 52-Jährige. Doch sei es das Ziel des Jobcenters, dafür künftig möglichst nur noch selten Anlass zu bieten. Dazu beitragen soll unter anderem ein "Bescheid-Berater", der den Leistungsempfängern bei Bedarf die im Behördendeutsch verfassten und teils schwer verständlichen Schreiben erläutert. Und sich vielleicht im Gegenzug auch den Unterschied zwischen Wohn- und Lebensgemeinschaft erläutern lässt.

Kategorie

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

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